Wenn ein Künstler eine tiefe Affinität zu einem großen Komponisten verspürt, erstreckt sich die Aneignung des Werkes dieses Komponisten über Jahre, manchmal auch über ein ganzes Leben. Letzteres trifft ohne Frage auf den ungarischen Bratschisten Vidor Nagy und seine Beziehung zu Béla Bartók zu; schon früh entstand sie in Nagys Berufslaufbahn, um Bartóks Viola-Konzert zu studieren und später immer wieder aufzuführen. Dass es bei einem wesensmäßig und landschaftlich bedingten Verhältnis nicht nur bei einem Einzelwerk bleiben konnte, liegt auf der Hand, und je nach Intensität der ‚Emulation’, des geistigen ‚Vater-Sohn’- oder ‚Meister-Schüler’-Verhältnisses haben sich Musiker aller Zeiten eigene Wege erkämpft, um dem Ziel geistiger Aneignung so nahe wie möglich zu kommen. Vidor Nagy wählte dazu drei sehr unterschiedliche Werke aus wie die Violin-Sonate Nr.2 und die Rhapsodie Nr.1, welche das Zentrum des Programms, die famose Solo-Sonate, umrahmen. Nagy bemächtigt sich dieser Werke mit der Viola, wozu er unterschiedliche Formen der Bearbeitung nutzen musste, wie Bartók sie selbst an vielen eigenen Werken ausprobiert hatte. So arrangierte Bartók bereits im Frühwerk Teile des 1. Violinkonzerts für Klavier und etliche Violinstücke für Violoncello; andererseits richtete er selbst Klavierstücke für Orchester, für Gesang und Klavier, für Violine und Klavier ein… Man kann sagen, dass Bartók zu den bearbeitungsfreudigsten Komponisten überhaupt gehört, dass er, wie Strawinsky und viele andere, geradezu Freude daran hatte, Eigenem in unterschiedlichster Form zu begegnen. Und wenn es andere tun, kann die Metamorphose noch eklatanter werden – wie Brahms im Blicke Schönbergs und Mussorgsky in dem Ravels.

 

Auch in Nachbarkünsten dachte man so. „Aus der Nähe ist das Leben ein Drama“, sagte Chaplin, „aus der Ferne aber eine Komödie“. Vidor Nagy drückt dasselbe etwas technischer aus: „Die Annäherung geschieht mit der Sprache des Körpers – mit zehn Fingern, nicht mehr, nicht weniger. Das wirkt komödiantisch, so lange man die Gedanken des Komponisten aus der Ferne umkreist, und wird immer dramatischer, je näher man ihnen kommt. Am nächsten aber ist man ihnen in der Grenzüberschreitung, wenn man die Viola enthemmt und dem Lieblichen in schier sich überschlagender Stimme auch das Gesicht des Entsetzens zufügt und dem Friedvollen Angsterfülltes beizumischen sucht. Wie bei Paganinis Capricen und Bachs Solo-Partiten, so auch bei Bartóks Solosonate: Nur der Atem und der Gestus als Innerstes der Musik wird vom Komponisten vorgegeben, sonst ist vieles Sache des Interpreten.“ Nagy hat Recht: Selbst bei penibelster Darstellung des Details machen auch die größten Komponisten am wenigsten Vorschriften hinsichtlich des Kernes des Werks. Ob Otello Tyrann oder Opfer, ob Jago Verratener oder Rächer ist, geben Shakespeare und Verdi weder in Worten, noch in Tönen vor; sie überlassen es dem Genie der Schauspieler und Sänger, Maß und Raum zu wählen. Der Dichter, der Komponist legen alle jene Charaktere an, dürfen sie aber nicht verwirklichen – das geschieht erst am Abend der Aufführung.

 

In der Instrumentalmusik ist das nicht anders. Nagy meint: Wie Shakespeare und Verdi, so „gehört auch Bartók der Ewigkeit an und zeigt viele Verwandtschaftsbezüge zu jenen; er liefert gewichtige Aussagen und schweren Inhalt. Wenn man dies verdünnt, um sie beherrschbar zu machen, scheitert man und bagatellisiert die Substanz. Mein Glaube an Bartók hat mir geholfen, bestimmte Dinge anders zu sehen, weil bei ihm Schönheit wie Wahrheit und Wahrheit wie Schönheit ist. Leonardo da Vinci hat bereits vorausgedacht, was auch für Bartók gilt: ‚Ogni depintore dipinge se’ – ‚jeder Maler malt sich selbst’.“

 

 

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Béla Bartók musste seine eigenen Klänge erkämpfen und fand sie in der Volksmusik. Seine Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier entstand von Juli bis November 1922 in Budapest und ist wie die Vorgängerin, die Sonate Nr. 1, der Geigerin Jelly d’Arányi gewidmet, mit der Bartók das Werk im Mai 1923 uraufführte – wiederum in London, wie die Sonate Nr. 1 im Jahre zuvor. Im Gegensatz zur klassisch dreisätzigen 1. Sonate (Allegro appassionato – Adagio – Allegro) ist die 2. Sonate zweisätzig (Molto Moderato – Allegretto); beide Werke spiegeln in ihrer rücksichtslosen Härte den Gärungsprozess, den Bartók nach dem Ersten Weltkrieg durchmachte und in dem er jenes ‚Gesicht’ entfaltete, durch das er unverkennbar wurde. In befremdlicher Schönheit tritt einem diese zweite Sonate entgegen; die neu erlangte kompositorische Freiheit führt zu bizarrer Phantastik, Akzente und Tempi erfahren furiose Umschichtungen. Wie atemlos wirkt manchmal die Rhapsodik des ersten Satzes, in der das Klangbild nicht leicht zu erfassen ist. Doch treten nach und nach tänzerische und folkloristische Elemente hervor, die nicht in zitathaft-stimmungsmäßigem Sinne, sondern als absolute Werte des kompositorischen Konzepts zu verstehen sind.               

 

Bartóks Sonate für Solo-Violine entstand 1943 bis 1944 und wurde knapp ein Jahr vor dem Tod des Komponisten durch den Auftraggeber, Yehudi Menuhin, mit großem Erfolg uraufgeführt. Dieser war von tiefer Wertschätzung für das Werk des damals im amerikanischen Exil lebenden Ungarn erfüllt, dem er mit der Bestellung aber auch wirtschaftlich helfen wollte. Bartók bewunderte Menuhins Interpretation der Bachschen Solosonaten, und so wurden diese auch zur Inspirationsquelle für das neue Werk. Bartók stellt eine Fuge an die zweite Stelle des Werks; wie Bach folgt er damit dem Bauplan der barocken sonata da chiesa: langsam-schnell-langsam-schnell. Auch in der Handhabung von Polyphonie und Kontrapunkt ist der Einfluss Bachs zu spüren: Der erste Satz ist mit Tempo di ciaccona überschrieben.

 

Die Fuge ist vierstimmig und geht somit nicht nur in den kontrapunktischen, sondern auch in den technischen Anforderungen über die (dreistimmigen) Bachschen Vorbilder hinaus. Denen folgend wechseln auch bei Bartók melodische Zwischenspiele mit den streng polyphonen Abschnitten, in denen das Fugenthema in Vergrößerung, Umkehrung und kanonischer Engführung durchgeführt wird. Doch verzichtet Bartók auf die Schlusssteigerung seiner Modelle und lässt den Satz unter Zurücknahme der kontrapunktischen Arbeit zugunsten virtuosen Spiels auslaufen. Erst zum Schluss erscheint, wie ein „jetzt erst recht“-Ausruf, die Fortissimo-Terz wieder, die bereits dem Satzbeginn den überaus markanten, fast gewalttätigen Zug gegeben hatte.

 

Der dritte Satz, Melodia, ist dreiteilig und beginnt mit einer Art Exposition; im nächsten Abschnitt folgt neues thematisches Material, das zu einem starken emotionalen Höhepunkt führt. Der Satz klingt in einer Art Reprise aus, einem abstrakt verzerrten Spiegelbild des Anfangsteiles. – Das Finale, Presto, ist im Grunde ein recht klassisches Rondo. Die „Sprache“ wird allerdings durch stärkste Chromatik verschärft. Die Zwischenspiele bringen eine thematische Steigerung; als neues Element treten sul ponticello-Passagen auf, die das Klangbild noch mehr verfremden. Mit einer Synthese des thematischen Materials kommt das Werk zu einem eindrucksvollen Abschluss.

 

Die Rhapsodie Nr. 1 für Violine und Klavier von stammt aus dem Jahr 1928, einer Zeit wachsender äußerer Anerkennung und intensiven Konzertierens. Diese Rhapsodie wurde vom Komponisten selbst bereits ein Jahr später für Violoncello eingerichtet, woraus man auf eine Legitimation für eine Aufführung mit Viola durchaus schließen darf. In diesem Werk ist die Verwendung volksmusikalischer Elemente näher an den Quellen als im Spätwerk, wo das „quasi Volksmusikalische“ künstlicher, dafür aber paradigmatischer wird und in knapperen Themen den klassischen Konstruktionsprinzipien folgt. In dieser Rhapsodie aber erscheinen nahezu ganze 16 bis 32taktige „Lieder“, die meist modal geprägt sind und mit starker Rhythmik und aggressiven Dissonanzen konfrontiert werden, insgesamt also einem eher improvisatorischen Habitus folgen. Mit der Musik jener Zeit folgt Bartók im Grunde einer neoklassizistischen Tendenz: Er meinte, in der „Bauernmusik“ sei etwas von dem enthalten, „was in unseren Tagen mit dem Schlagwort ‚Objektivität’ bezeichnet wird und was ich ‚Sentimentalitätsmangel’ nennen würde“. Er schuf so einen eigenen Stil, mit dem er sich zwar in weiter verbreitete Tendenzen der damaligen neuen Musik einreiht; doch das angekündigte ‚Objektive’ ist in Wirklichkeit das Persönlichste, was Bartók als Künstler hat, um sich einer ideologisch zum Äußersten gefährdeten Zeit mit aller Kraft entgegenzustellen.

 

Ulrich Drüner

(unter Verwendung von Aufzeichnungen von Vidor Nagy)

 

 

Dr. Ulrich Drüner, geb. 1943 in Frankreich, studierte dort Musik und wechselte 1965 an die Musikhochschule Freiburg im Breisgau; Promotion 1987 über Richard Wagner. 1975-2008 war er Bratschist im Staatsorchester Stuttgart, wo er drei Jahrzehnte lang mit Vidor Nagy zusammenarbeitete. Ab 1983 wirkte Drüner zunehmend auch als Musikantiquar und als Musikschriftsteller. Sein sechstes Musikbuch, „Richard Wagner. Die Inszenierung eines Lebens“, erscheint im Mai 2016 bei Blessing (Verlagsgruppe Random House / Bertelsmann, München); es ist eine Biographie, die aus der Praxis des Musikers völlig neue Perspektiven auf den großen Opernkomponisten eröffnet.